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Fohlenecho

Tief im Westen, dort, wo selbst Herbert Grönemeyer glaubt, es könne nichts mehr kommen, dort liegt ein Land, das nennt sich Niederrhein. Die Menschen haben die erstaunliche Fähigkeit viel zu reden, ohne etwas zu sagen. Sie haben vom lieben Gott besonders große Füße mitbekommen, damit sie in den Sümpfen und Wasserläufen nicht versinken. Sie haben außerdem lange Arme mit großen Händen. Damit ernten sie auf ihren Feldern unendliche Mengen Kappes, aus denen sie Sauerkraut machen, weil das sättigt, den Darm reinigt und so die Verdauung fördert. Daher liegt immer ein leicht säuerlicher Geruch über dem Niederrhein. Es ist der Dunst von schwer verdautem Sauerkraut, der sich mit dem Verwesungsgeruch aus den Sümpfen rechts und links des Hauptflusses am Niederrhein, der Niers mischt. Dem ständig wehenden Westwind, der von den noch tiefer gelegten Niederlanden her über die Abbruchkante zum Maastals hinaufsteigt, wird regelmäßig flau auf seinem Weg zu Rhein. Er erschlafft unter der Last, die er zu tragen hat, noch vor dem großen Strom. So liegt der Geruch dauerhaft wie eine große Glocke über dem Niederrhein. Das macht die Menschen tief in ihrer Seele schwermütig.

Wenn sie nach dem harten Tagewerk auf den Äckern in ihren Kneipen sitzen, dann scharen sie sich um runde Tische. Vor ihnen stehen Gläser mit einem dunkelbraunen, obergärigen Trank, der mit der Zeit müde und teilnahmslos und alt macht. Daher auch der Name des angeblichen Biers. So betäuben die Menschen mit den großen Händen und großen Füßen ihre Schwermut. Dumpf brüten sie vor sich hin. Aber irgendwann am Abend wird einer in ihrer Runde das Wort ergreifen. Er wird erzählen von den Heldentaten längst versunkener Zeiten, als noch Textil am Niederrhein verarbeitet und an einem winzigen Flusslauf gleich an der Quelle der Niers noch Fohlen gezüchtet wurden. Hoch über dem Flusslauf liegt die Abtei der Mönche. Tief unten plätschert der längst verrohrte und wie die Menschen an seinen Ufern tiefer gelegte Gladbach dahin.

Der Sage nach soll hier einst ausgerechnet ein Wahlkölner namens Hennes, der ausnahmsweise kein Geißbock gewesen sein soll, erstaunliche Zuchterfolge gefeiert haben. Der Hans Weisweiler aus Lechenich, heute Erftstadt, machte nämlich eine Müllkippe urbar, in der schon 1900 in Verehrung der Preußen die latinisierte Form ?Borussia? tollte. Damals hieß das Ding die Kull (Niederrheinisch für Loch ? meist mit Müll gefüllt). Später machten sie daraus den Bökelberg. So wurde aus einem Loch ein Euphemismus. Lange Jahrzehnte war die Kull nicht ertragreich, dafür wechselte sie häufig die Bespieler. Denn erst als ein gewisser Turnverein Germania frisches Blut in den schwindsüchtigen Kullklub pumpte, klappte es wenigstens mit einem regionalen Erfolg. Der VfTuR 1889 Mönchengladbach errang tatsächlich 1920 eine westdeutsche Meisterschaft. Davon erholte sich die Fusion nicht, sondern platzte. Germania verabschiedete sich nach nur einem Jahr, die Kulltruppe ließ neue Visitenkarten drucken, auf denen nun VfL Borussia Mönchengladbach stand. Das war, nimmt man es genau, die Geburtsstunde eines Vereins, der heute zwar noch existiert, aber sich selbst nur als Mythos, also als bloße Erzählung versteht. Was sagt uns das Lexikon über den Begriff ?Mythos?? Lesen wird nach: ?Der Mythos wird als primitive Welterklärung, als Ausdruck eines archetypischen Stadiums der Bewusstseinsentwicklung oder als stets mögliche, auf frühen Kulturstufen besonders fruchtbare Art der Weltbetrachtung verstanden.? (F.A. Brockhaus).

Nun muss man weiterhin wissen, dass der VfL Borussia mit dem listig erschlichenen Gründungsdatum 1900 während des Zweiten Weltkriegs erneut fusionierte ? nicht freiwillig zwar, aber immerhin. Er musste sich mit dem Sportclub 1894 einlassen, die Zwangsehe ging gleich nach 1945 in die Brüche. Das Scheidungskind nahm flugs seinen alten Namen wieder an, der andere Verein läuterte sich vom Mönchengladbacher FC 94 später zum 1. FC Mönchengladbach 1894. In der Stadt übrigens lange Zeit der wesentlich beliebtere Verein. Den VfL mögen sowieso nur die Sumpfbauern aus dem Umland wirklich. Als eine nach gutem Bier bezeichnete Borussia im fernen Westfalen schon drei Deutsche Meisterschaften feierte, dümpelte der künftige ?Mythos vom Niederrhein? noch in irgendeiner Sauerkrautliga dahin. Erst mit dem Körmeister Hans Weisweiler, genannt Hennes, ging es bergauf mit dem schwerfälligen Kaltblutstall unterhalb der Mönchsklause. Unter den Menschen mit den großen Füßen, die fortan als Verneigung vor dem Landvolk auf den Tribünen Jungpferde oder auch Fohlen geheißen wurden, war ein Mann namens Günter Netzer, den Hennes zweiweilig zum blonden Engel und später zum bösen Teufel machte. Unübersehbar leuchtete in der stockdunklen Gladbachnacht außerdem der Kopf eines gewissen Josef Heynckes, und im Rotlichtviertel an der Künkelstraße wuchsen ein paar weitere Straßenjungs auf, die Weisweiler so gut es ging an die Zivilisation heranführte. Über ihre Namen decken wir gnädig den Mantel des Schweigens. Zehn goldene Jahre, so wispern sie seither und heute noch an den Stammtischen, habe es gegeben. Nach Weisweiler, der in Köln persönlich glücklicher werden sollte, kam Herr Lattek. Damals gab es einen Hit von Insterburg & Co. über Mädchen, die man überall hatte. Noch vor den nächtlichen Eskapaden von Tiger Effe im VfL-Dress hinterließ Udo in Trainingspausen seine Duftmarken in manch zarter Bettwäsche, sagt die Mär. Heute blubbert er nur noch von Freunden, die er überall in der Republik haben will, um seine meist wohl spontan und angeblich bierselig erfundenen Weisheiten allenthalben im Deutschen Stumpfsinn-Forum elektronisch zu hinterlassen. Später durfte Jupp auch mal als Trainer ran, ehe er der selbsternannte Welttrainer an der Hand von Uli Hoeneß beim FC Bayern München wurde und sich den zweifelhaften Ruhm erarbeitete, mit dem Gewinn der Champions-League bei Real Madrid den Rauswurf zu erhalten. Ein kleiner Kläffer hoppelte auch noch durch die Kull, die ein Berg sein wollte. Seine größte Tat war es, einen gewissen Johan Cruyff beim WM-Finale 1974 nach wenigen Minuten mit einer deutschen Eiche zu verwechseln. Nur dass der Terrier ihn nicht anpinkelte, sondern mit der Axt umlegte. Ansonsten lernt er Englisch in Schottland und Russisch in Aserbeidschan. Beides klappt irgendwie nicht, weil sein Hirn im Fuß sitzt.

Es gab einen Tag im Jahr 1978, an dem sich für die Westfalen der Himmel über Düsseldorf verdunkelte. Mit 12:0 unterlag die Borussia dem VfL. Es war der Tag, an dem Otto Torhagel geboren und die unendliche Geschichte geschrieben wurde, die sich die Niederrheiner bis heute an ihren Lagerfeuern aus Torf erzählen. Immer dann, wenn die Angst um die Klasse Seelen auffrisst und der VfL seinen Mythos (Erklärung siehe oben) mal wieder aus der Mottenkiste holt (das macht er eigentlich immer), muss dieses Ergebnis herhalten. Eigene saftige Niederlagen werden ebenso geflissentlich übersehen wie die Tatsache, dass der BVB die Mannschaft ist, die in einer Halbzeit in der Bundesliga die meisten Tore erzielte. Nur wird davon am Borsigplatz nicht mehr erzählt. Die Menschen dort leben in der Gegenwart, während die armen Tröpfe im Torfland sich stets aufs Neue im niederrheinischen Sumpf suhlen müssen, um ihre armselige Identität im Zeichen der Raute zu beschwören.
So war es auch am vergangenen Wochenende. Wie immer am Niederrhein, strömen die Fans nur dann herbei, wenn ein Fünkchen Erfolg um die Ecke lugt. Sonst ist da nie jemand wirklich Fan des VfL. Man fühlt sich nur verbunden und ist distanziert. Aber sobald zwei Siege in Folge gefeiert worden sind, hängen grün-weiß-schwarze Fahnen in Fenstern, Vorgärten und an Autos. Nach einer Niederlage sind sie gleich verschwunden, es redet keiner über den VfL, ergeht man sich höchstens wieder in Erinnerungen. Die Fußballarchäologen vom Niederrhein wühlen dann in den Eingeweiden ihrer Kick-Rentner, verklären sie und damit sich. Selbst Teenies im Zeichen der Raute reden nur von damals, als die Schweine noch Wickelgamaschen trugen und Wolfgang Kleff noch nicht der Ex-Torwart von der traurigen Gestalt war.

Seither hat sich viel getan am Niederrhein. Sümpfe sind trockengelegt, die Textilindustrie hat sich nach Fernost verflüchtigt, aber MG ist immer noch ein Jammerkaff, das keine Sau kennen würde, gäbe es nicht die weit zurückliegende Vergangenheit. Dumm nur, dass auch sie allmählich verblasst. Erklärt heute der Gladbacher Tourist in Antalya (?Jibbet hier Alt??), woher er stammt (?Isch bin von Jlattbach?), guckt der Türke erstaunt und fragt: ?Wo is dat denn, isch bin nämlich ene kölsche Jung.? Doch beschwört der VfL-Fan weiterhin die Vergangenheit, aus der er live glaubt jene traurige Witzfigur namens Jünter ableiten zu können, die das Erbe eines großen gleichnamigen Fußballers mit Füßen tritt. Vor einer Woche eilten sie wieder vergangenheitsselig nach Düsseldorf, wo es 1978 jenen denkwürdigen letzten Spieltag gab, der die Meisterschaft des 1.FC Köln beim FC St. Pauli dennoch nicht verhindern konnte. Leverkusen wollten sie weghauen nach ihren glorreichen last minute-Erfolgen über Gelsenkirchen und Cottbus, jene wahren Riesen dieser Liga. Hauen stimmte, nur weg war nicht. Drauf ging?s und dann unter, allerdings mit 5:0. Hinterher bramarbasierte der Trainer von der traurigen Gestalt, Hans Meyer II, irgendetwas davon, dass man noch alles selbst in der Hand habe. Und er macht wie gewohnt seine vermeintlichen Witzchen, über die er nicht mehr lachen mag, weil er sein Gefasel selbst nicht mehr versteht. Wie sollte seine von Rolf Königs Gnaden (Kennzeichen: Null Ahnung von Fußball, aber gespreiztes Auftreten wie ein mit Goldbronze überzogener Pfau) bunt zusammengewürfelte Truppe dann den Trainer verstehen? Dessen in der DDR gelernten sportstalinistische Schreckensmethoden nutzen sich heute drei Monate nach Amtsantritt ab. Und das bisher probate Mittel, gezielt als Erstes Hierarchien in Fußballmannschaften zu zerstören, hat beim VfL auch nicht mehr geklappt. Es gab nämlich keine Hierarchie, sieht man mal davon ab, dass Oliver Neuville in der Pause zum Rauchen aufs Damenklo der Presse geht und so ganz andere Akzente setzt.

So hocken sie denn da am Niederrhein und haben nur das eine im Kopf. Letzter Spieltag 1978. Dazu beten sie den Rosenkranz, geweiht im nahen Marienwallfahrtsort Kevelaer. Da allerdings regiert nicht Mythos, sondern Mystik. Aber das versuche mal jemand, Gladbachern beizubringen. Bleiben wir biblisch. Eher geht ein Kamel durchs Nadelöhr?

 , 21.05.2009

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