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Die Tragödie von Hillsborough

Der 15. April 1989 hat sich tief eingefressen in das Gedächtnis einer Stadt und ihrer Menschen. Der FC Liverpool hat sein gestriges Champions-League-Spiel beim FC Chelsea vorziehen lassen. Auf den 14. April. Am 15. April spielen die Reds nicht. Nie mehr. Dieser Tag ist in der nordenglischen Hafenstadt ein emotionsgeladener Gedenktag. Eine ganze Stadt kann und will nicht die Erinnerung an eine der furchtbarsten Katastrophen auslöschen, die es im englischen Fußball gab. 96 Fans des FC Liverpool starben an jenem Tag vor zwanzig Jahren im Hillsborough-Stadion in Sheffield. Sie wurden erdrückt, erstickt, zerquetscht, zertrampelt. 766 weitere Zuschauer erlitten zum Teil schwerste Verletzungen und sind bis heute schwer traumatisiert. Das kann niemand aus den Köpfen ihrer Angehörigen und Freunde auslöschen. Am 15. April hält eine ganze Stadt inne.

Liverpool traf damals im FA-Cup-Halbfinale an einem düsteren Apriltag auf den Außenseiter Nottingham Forest. Auf einem Tribünenabschnitt des 90 Jahren Stadions war Platz für 2100 Zuschauer. Vom Spielfeld trennte sie ein massiver Metallgitterzaun. Was damals geschah, ließ sich die Autorin Iris Hellmuth jetzt in Liverpool von Überlebenden schildern.

Ihr Bericht erschien in der Financial Times Deutschland:

Hillsborough Memorial

Hillsborough Memorial

?Pünktlich um 15 Uhr hat das Spiel begonnen?, sagt Stephen Wright,sein harter nordenglischer Dialekt taktet die Sätze. ?Ich hatte einen Sitzplatz, nur Grahamwollte unbedingt hinter dem Tor stehen. Als ich das Chaos am anderen Ende des Stadionssah, wurde mir mulmig.? Das Chaos, das waren über 3000 Fans in einem Block, der für höchstens 1600 ausgerichtet war. Der Druck in der Masse stieg, als hätte jemand einen Schraubstock um sie gelegt. ?Ab und zu schaffte ich es einzuatmen, aber dann wollte ich nicht ausatmen, ich hatte Angst, mein Brustkorb würde brechen?, sagt Gary Burns. ?Die Menschen um mich herum liefen blau an und verloren das Bewusstsein, sie bettelten die Polizisten an, ein Tor zu öffnen. Reagiert hat aber niemand?, erzählt er. ?Ich erinnere mich an einen Ordner, der vor uns stand, eine Frau schrie in Todesangst, doch er blickte wie durch uns hindurch. Ich sog die Luft auf, als hätte ich nie zuvor geatmet?, sagt Burns. ?Erst jetzt merkte ich, dass ich klitschnass war, am ganzen Körper. Um mich herum zitterten, schrien und weinten die Menschen. Andere waren wie in Trance. Sie rissen Werbetafeln von den Seiten des Spielfelds und trugen die Verletzten darauf fort.?

Bis heute ist nicht geklärt, wie es zu der Kette von Fehlentscheidungen kommen konnte, die 96 Fußballfans das Leben kostete. 1999 fand der ?Daily Telegraph? heraus, dass Aussagen von über 100 in Hillsborough eingesetzten Polizisten von ihren Vorgesetzten geändert worden waren. Manchen fehlte die Unterschrift. Jack Straw, der damalige Innenminister, ordnete eine neue Untersuchung an ? doch der beauftragte Richter kam zu dem Schluss, die gestrichenen Stellen seien nicht relevant genug. Darunter waren Aussagen, die das Verhalten der verantwortlichen Beamten deutlich kritisierten.

Hillsborough hat den Glauben der Briten an ihr eigenes Rechtssystem erschüttert. Zuviele Fragen sind offen geblieben. Und bis heute wird in Liverpool am 15. April kein Fußballgespielt. Auch Steven Gerrard, der aktuelle Mannschaftskapitän des FC Liverpool,hat einen Cousin in Hillsborough verloren.

Dass die Katastrophe nicht richtig aufgearbeitet wurde, beschäftigt die Menschen bis heute am meisten. Eine Konsequenz daraus wird heute in manchen Veröffentlichungen besonders gerne herausgestellt. Die Katastrophe von Hillsborough hat den englischen Fußball umgekrempelt und der Champions League später ihren Stempel aufgedrückt. Es gibt keine Zäune mehr in englischen Stadien. Es gibt auch keine Stehränge mehr. Die vielfach noch älteren Stadien wurden radikal modernisiert, es wurde strenge Sicherheitsstandards ersonnen und umgesetzt. Das ?früher lebensgefährliche Extremvergnügen Fußball? wandelte sich ?in einen harmlosen Familienspaß, der jedes Jahr für neue Rekordumsätze der Klubs sorgt?, heißt es beispielsweise. Es öffnete aber gleichzeitig jener Form des Fußballs die Tore, die Günther Netzer unlängst als ?unmoralischen Fußball-Kapitalismus? brandmarkte. Natürlich kann man das eine nicht gegen das andere aufwiegen. Aber Hillsborough hat den Fußball nachhaltig verändert. Und nicht alles hat sich dabei zum Guten entwickelt.

Aber in Liverpool und in Sheffield ist das heute zweitrangig. Bis heute ist die Katastrophe von Hillsborough nicht aufgearbeitet worden. Niemand wurde wirklich zur Rechenschaft gezogen. So hat beispielsweise kein Gericht verhandelt, wann die Katastrophe denn genau geschah. Im ersten Verfahren legte ein Untersuchungsgericht fest, es sei um 15.15 Uhr gewesen. Eine Viertelstunde nach dem Anpfiff des Spiels. Doch zahlreiche Zeugen sagen, es sei später gewesen. Viele Fragen seien offen geblieben, berichtet Iris Hellmuth nach ihren vielen Gesprächen in Liverpool. So gesehen, waren der Umbau und die Umstrukturierung der Stadien und des Fußballs eine zwar unausweichliche Konsequenz des furchtbaren Unglücks. Aber es gab nie eine schlüssige Aufarbeitung. Die Mutter eines damals zu Tode gekommenen Jungen scheiterte unlängst erst am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte mit dem Versuch, den Fall neu aufzurollen. Das Gericht lehnte die Aufnahme eines Verfahrens mit der Begründung ab, der Fall sei verjährt. Die Mutter will nicht aufgeben, sondern in Revision gehen. Vielleicht kommt es dann doch noch, mehr als zwanzig Jahre nach der Tragödie, zur gerichtlichen Aufarbeitung.

Im Gedenken an die Opfer!

, 15.04.2009

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